Lernen Sie das Anklageprinzip nach der Strafprozessordnung anhand des Falles Pierin Vincenz vor dem Zürcher Obergericht kennen. Wir werden uns mit wesentlichen Aspekten befassen, die den Zweck der Anklageschrift für den Angeklagten klären und seine Verteidigung erleichtern. Sie erfahren, welche prozessualen Folgen Mängel in der Anklageschrift haben und wie die Rechtsordnung ihnen begegnet.
Besonderes Augenmerk liegt auf dem laufenden Verfahren gegen Pierin Vincenz, den ehemaligen Chef der Raiffeisenbank. Das Obergericht hat auf erhebliche Mängel in der Anklageschrift hingewiesen und die entsprechenden Urteile aufgehoben. Erfahren Sie, wie sich dieser Entscheid auf das Verfahren auswirkt und welche Folgen er für die beteiligten Parteien haben könnte.
1. Was ist das Anklageprinzip?
In der Anklageschrift sind die dem Beschuldigten zur Last gelegten Handlungen mit Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen der Tat kurz und präzise zu bezeichnen (Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO). Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der Beschuldigte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe versteht, um sich angemessen verteidigen zu können. Die Anklageschrift muss auf unnötige Details verzichten, die für die rechtliche Subsumtion irrelevant sind.
Eine zu kurze oder zu ausführliche Anklageschrift kann die Informationsfunktion beeinträchtigen. Die Anklageschrift sollte so detailliert sein, dass eine wirksame Verteidigung möglich ist, und allzu ausführliche Beschreibungen, die gegen den Grundsatz der Anklageschrift verstossen, sollten vermieden werden. Die Anklageschrift muss den Fakten darlegen, aber nicht beweisen, und es sollte vermieden werden, Beweise oder Aktenverweise aufzunehmen. Die für den „Umfang der rechtlichen Aufgaben“ relevanten gesetzlichen Bestimmungen sollten genau angegeben werden (einschliesslich Nummern und Paragraphen), und der Inhalt des Rechtsverstosses oder die zugehörigen rechtlichen Erläuterungen sollten nicht enthalten sein.
Auch im Falle einer Verteidigung muss der Beschuldigte in einer verständlichen Sprache über den wesentlichen Inhalt der wesentlichen Verfahrenshandlungen mündlich oder schriftlich informiert werden. Es besteht kein Anspruch auf eine vollständige Übersetzung aller Verfahrensunterlagen oder der Akten (Art. 68 Abs. 2 StPO). Zu den wesentlichen Verfahrenshandlungen gehören in der Regel die Anklageschrift, die Belehrung des Verteidigers und die wesentlichen Ereignisse der Hauptverhandlung. Zumindest die Anklageschrift muss in der Regel eine schriftliche Übersetzung enthalten.
2. Was sind die verfahrensrechtlichen Konsequenzen?
In der Hauptverhandlung prüft das Gericht die Richtigkeit der Anklageschrift und das Vorliegen von Verfahrensvoraussetzungen oder -hindernissen (Art. 329 Abs. 1 StPO). Stellt sich bei dieser Prüfung oder im weiteren Verlauf des Verfahrens heraus, dass eine Verurteilung derzeit nicht möglich ist, stellt das Gericht das Verfahren ein. Gegebenenfalls schickt es die Anklageschrift zur Berichtigung oder Ergänzung an die Staatsanwaltschaft zurück (Art. 329 Abs. 2 StPO). Dies gilt auch im Rechtsmittelverfahren (Art. 379 StPO).
Werden im erstinstanzlichen Verfahren wesentliche Mängel festgestellt, die im Berufungsverfahren nicht behoben werden können, hebt das Berufungsgericht das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die erste Instanz zurück (Art. 409 Abs. 1 StPO). Diese Aufhebung erfolgt bei schwerwiegenden, unheilbaren Verfahrensmängeln und stellt sicher, dass die Parteien ein ordnungsgemässes erstinstanzliches Verfahren erhalten.
3. Urteil des Zürcher Obergerichts vom 25. Januar 2024 im Fall Vincenz
Im Strafverfahren gegen den ehemaligen Chef der Raiffeisenbank, Pierin Vincenz, wurde die 356-seitige Anklageschrift vom 26. Oktober 2020 vom Obergericht wegen gravierender Mängel kritisiert:
„Die Anklageschrift geht über den gesetzlichen Rahmen hinaus und lässt eine knappe und genaue Beschreibung der den Angeklagten zugeschriebenen Handlungen vermissen (Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO). Sie ist repetitiv und enthält irrelevante historische Daten, so dass sie einer von der StPO nicht vorgesehenen juristischen Rechtfertigung gleichkommt. Sie ist auch unnötig ausführlich.“ (Erwägung 4.6)
Infolgedessen hat das Obergericht die Urteile vom 11. April 2022 und 22. August 2022 aufgehoben und angeordnet, dass die Anklageschrift zur Verbesserung an die Staatsanwaltschaft zurückgegeben wird, um Verfahrensverzögerungen zu vermeiden und ein faires Verfahren zu gewährleisten. Die Staatsanwaltschaft muss vor der Hauptverhandlung eine vollständige französische Übersetzung der Anklageschrift für den französischsprachigen Angeklagten vorlegen.
Diese Entscheidung bedeutet keine Änderung der ursprünglichen Verurteilungen, sondern gewährleistet die Einhaltung der Verfahrensgerechtigkeit.
4. Hat die Zürcher Staatsanwaltschaft geantwortet?
Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat gegen den Entscheid des Obergerichts Beschwerde eingereicht. Sie argumentiert, dass das Recht auf rechtliches Gehör nicht verletzt worden sei, wie die Hauptverhandlung gezeigt habe, in der sich alle Parteien umfassend mit den Vorwürfen in der Anklageschrift auseinandergesetzt hätten. So hat keine der Parteien ihren Antrag auf Zurückverweisung an das Obergericht so ausführlich begründet wie die Anklageschrift selbst.
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