Der Vincenz-Prozess hat in den letzten Jahren erhebliche Aufmerksamkeit in der Schweizer Öffentlichkeit erregt. Als ehemaliger CEO der Raiffeisen Schweiz steht Pierin Vincenz im Zentrum eines der bedeutendsten Wirtschaftsstrafverfahren der jüngeren Vergangenheit. Der Fall bietet wertvolle Einblicke in die Schnittstelle zwischen Unternehmensführung, Strafrecht und strategischer Prozessführung. Im Folgenden beantworten wir fünf zentrale Fragen, die sich aus Sicht der Litigation-Praxis stellen.
Worum handelt es sich dabei? Was ist im Vincenz-Prozess geschehen?
Ausgelöst durch eine Strafanzeige eröffnete die Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich am 22. Dezember 2017 ein Strafverfahren gegen Pierin Vincenz und Beat Stocker wegen des Verdachts auf ungetreue Geschäftsbesorgung. Im Laufe der Ermittlungen weitete sich das Verfahren erheblich aus. Vincenz verbrachte zudem im Frühjahr 2018 über drei Monate in Untersuchungshaft.
Die Anklage vom 26. Oktober 2020 warf den Hauptbeschuldigten vor, Geschäftskreditkarten für private Ausgaben missbraucht und ihre Positionen bei Transaktionen mit Beteiligungsgesellschaften unrechtmässig ausgenutzt zu haben – darunter bei der Investnet Holding, an der Vincenz sich privat beteiligte, während Raiffeisen eine Mehrheitsbeteiligung hielt.
Am 11. April 2022 verurteilte das Bezirksgericht Zürich Vincenz wegen mehrfacher qualifizierter ungetreuer Geschäftsbesorgung, teilweise versuchten Betrugs und passiver Privatbestechung zu 3 Jahren und 9 Monaten Freiheitsstrafe. Beat Stocker erhielt 4 Jahre. Beide wurden zusätzlich zu hohen Geldstrafen verurteilt. Dagegen erhob die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft Beschwerde beim Bundesgericht in Lausanne.
Was hat das Bundesgericht in Lausanne entschieden?
Mit Urteil vom 17. Februar 2025 gab das Bundesgericht der Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft statt und hob den Rückweisungsentscheid des Obergerichts auf. Es wies dieses an, das Berufungsverfahren auf Basis der bestehenden Anklageschrift durchzuführen.
Das Bundesgericht stellte fest, dass die Anklageschrift trotz ihres Umfangs (356 Seiten) den Anforderungen der Strafprozessordnung genügte. Zwar sei eine ausschweifende Anklage grundsätzlich zu vermeiden, doch seien die behaupteten Mängel hier heilbar und hätten im Berufungsverfahren berücksichtigt werden können. Eine Rückweisung stelle unter den gegebenen Umständen eine Verletzung des Beschleunigungsgebots dar, zumal sie das Risiko einer Verjährung einschliesst.
Der Entscheid stärkt die Verfahrensökonomie und betont, dass Rückweisungen nur bei unheilbaren Verfahrensfehlern zulässig sind.
Was Litigators aus dem Vincenz-Prozess lernen können?
Der Fall vermittelt mehrere praxisrelevante Erkenntnisse:
Erstens: Umfangreiche Anklageschriften sind nicht per se unzulässig. Entscheidend ist, ob sie es der beschuldigten Person ermöglichen, den Tatvorwurf klar zu erkennen. In wirtschaftsstrafrechtlichen Verfahren mit komplexen Sachverhalten und mehreren Beschuldigten ist ein gewisser Umfang oft unvermeidlich – und rechtlich zulässig, sofern die Struktur nachvollziehbar bleibt.
Zweitens: Rückweisungen im Berufungsverfahren sind nur in Ausnahmefällen angezeigt. Litigators sollten diese nicht leichtfertig beantragen, da sie – wie im Fall Vincenz – zu Verzögerungen und verfahrensrechtlichen Nachteilen führen können. Rückweisungen dürfen nicht zur Korrektur heilbarer Mängel missbraucht werden.
Drittens: Verfahrensökonomisches Denken ist zentral. Das Bundesgericht betonte, dass das bereits absolvierte Verfahren (acht Verhandlungstage, 1200-seitiges Urteil) nicht ohne zwingenden Grund wiederholt werden darf. Litigation-Teams müssen in der Lage sein, juristische Präzision mit Effizienz und strategischem Vorgehen zu verbinden.
Wie beeinflussen Verfahrensfehler im Untersuchungsverfahren das Hauptverfahren?
Verfahrensfehler in der Untersuchung können das Hauptverfahren beeinträchtigen – je nachdem, ob sie als heilbar oder unheilbar eingestuft werden. Heilbare Mängel, etwa bei Einvernahmen oder in der Anklageschrift, können im weiteren Verfahren korrigiert werden. Unheilbare Mängel – etwa die Verweigerung des rechtlichen Gehörs oder gravierende Verteidigungsbeeinträchtigungen – können zur Aufhebung des Urteils führen.
Der Vincenz-Entscheid zeigt exemplarisch, dass nicht jeder Mangel automatisch zum Instanzverlust führt. Das Bundesgericht qualifizierte weder die ausschweifende Anklageschrift noch die fehlende Übersetzung ins Französische als unheilbar. Es stellte klar, dass solche Mängel im Berufungsverfahren korrigierbar sind. Entscheidend ist stets die Frage, ob die Verteidigungsrechte substanziell beeinträchtigt wurden – nur dann ist eine Rückweisung zulässig.
Für Litigators bedeutet das: Verfahrensfehler müssen kontextsensitiv analysiert und prozessstrategisch bewertet werden. Nicht jeder formale Mangel rechtfertigt einen Neustart – aber er kann, richtig eingesetzt, Einfluss auf den Verfahrensgang nehmen.
Wie können Unternehmen ihre Spesenrichtlinien gestalten, um Missbrauch vorzubeugen, und welche Kontrollmechanismen sind dabei effektiv?
Der Fall Vincenz verdeutlicht die Risiken unklarer Spesenregelungen. Die Verurteilungen basierten unter anderem auf privaten Ausgaben, die über Geschäftskonten abgerechnet wurden. Das macht deutlich, wie wichtig klare interne Richtlinien sind.
Unternehmen sollten daher:
✔ Detaillierte Spesen- und Reisekostenrichtlinien formulieren
✔ Mehrstufige Freigabeprozesse etablieren (Vier-Augen-Prinzip)
✔ Digitale Spesenmanagement-Systeme nutzen, um Transparenz und Nachverfolgbarkeit zu gewährleisten
✔ Regelmässige Kontrollen durch interne oder externe Revisionsstellen vorsehen
✔ Eine unabhängige Compliance-Struktur implementieren, die bei Verdacht intervenieren kann
Klare Regelungen und deren konsequente Umsetzung sind der beste Schutz vor strafrechtlichen und reputativen Risiken – und sie stärken die Integrität der Unternehmensführung. Nehmen Sie noch heute Kontakt mit uns auf, um auf Ihr Unternehmen zugeschnittene Präventivmassnahmen zu entwickeln und Ihre Corporate-Governance-Standards zu verbessern.